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„Rache ist süß – wohin mit unseren unheilen Gefühlen“
Die Psychologie der Rachepsalmen
Am Anfang des XXI. Jahrhunderts leben wir in einer von Terroranschlägen gezeichneten Welt, viele Wunden zwischen Völkern und Einzelpersonen sind nicht geheilt. Nicht wenige Leute hegen Rachegedanken – denn Rache ist ja so süß.
Rache ist kein angenehmes Phänomen. Viele verstehen, dass es äußerst negativ ist. Zur gleichen Zeit werden damit auch mehrere positive Momente wie Gerechtigkeit, Unabhängigkeit und Selbstschutz verknüpft.
Rache ist ein ernstes Problem für die „guten“ Menschen, die denken, dass sie damit nichts zu tun haben dürfen. Sie fühlen sich schon dann schuldig, wenn sie ihre negativen Emotionen nicht verbergen können, geschweige denn Worte und Taten.
Es gibt Leute, die dann ihre Bibel aufschlagen und dort Hilfe suchen. Rachegedanken finden wir schon am Anfang der Bibel: 1. Mose 4:24 „Kain soll siebenmal gerächt werden, aber Lamech siebenundsiebzigmal“; und weiter zieht sich der Faden durch die ganze Heilige Schrift. Römer 12:19b „Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.“
Wohl lautet eine erste Erklärung, dass diese Stellen „typisch alttestamentlich“ seien und zu einer Gesetzesreligion gehören würden – also vorchristlich seien. Das zeugt von unseren Vorurteilen gegenüber AT und Judentum. Es ist nicht wahr, dass die Hebräische Bibel eine zügellose Vergeltungsreligion vertritt. Das AT spricht auch über Gottes überschwängliche Liebe:
Jeremia 31:3 „Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.“
5. Mose 7:9 “So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten.”
Schon das AT spricht von allumfassender Vergebung: Jesaja 55:7 „Der Gottlose lasse von seinem Wege und der Übeltäter von seinen Gedanken und bekehre sich zum HERRN, so wird er sich seiner erbarmen, und zu unserm Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung.“
Auf der anderen Seite enthält auch das NT eine Sehnsucht, dass die Widersacher Gottes für ihr Unrecht ihren Lohn erhalten: 2. Thessalonicher 1:6 “Denn es ist gerecht bei Gott, mit Bedrängnis zu vergelten denen, die euch bedrängen.“
Eine besondere Rolle spielen die Psalmen. Beim fortlaufenden Lesen begegnen uns dort einige sehr harte Vergeltungsgedanken. Am drastischsten sind wohl diese: „Gott, zerbrich ihnen die Zähne im Maul ... HERR, du Gott der Vergeltung, du Gott der Vergeltung, erscheine! … Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert!” (Psalm 58:7; 94:1; 137:9)
Was wollen die Racheaussagen in Psalmen? Wo und wie sind sie zu gebrauchen?
Beim Psalter denken wir gewöhnlich an etwas Prachtvolles, Erhabenes.
Die Theologie benutzt auch das Wort „Rachepsalmen“ und versteht darunter kürzere oder längere Abschnitte aus mehr als 37 verschiedenen Psalmen. Der Anteil der Racheabschnitte ist dort manchmal nur 1 bis 2 Verse lang (Psalm 12; 17 usw), manchmal ist der Umfang auch größer (Psalm 59; 83; 109 usw). Aber die Bezeichnung „Rachepsalm“ trifft auf keinen der 150 Psalmen voll zu. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat den Terminus „Rachepsalm“ als erster F.A.G. Tholuck verwendet. Nebenbei: Als ich 1982/83 an der Universität Halle studierte, wohnte ich in einem Konvikt, das seinen Namen trug.
Die Bedeutung der Vergeltung in Psalmen
Im Alten Testament bedeutet die Vergeltung eine schon in der Schöpfung gegründete Bewahrung der Lebensordnung: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden; denn Gott hat den Menschen zu seinem Bilde gemacht.” 1. Mose 9:6. Die Vergeltung hat hier einen positiven Klang. So verstand man die Wiederherstellung des Gesund-Seins der Gesellschaft.
Auf die Frage, ob in etlichen Psalmen ein Vergeltungsdogma vorausgesetzt sei, wird in der Theologie manchmal folgende Antwort gegeben: Es wird gesehen, dass Gott selber das Volk entsprechend dessen Verhalten zu seinem Gesetz behandelt – wo sie sündigten, dort kam auch die Strafe. Dies habe zum Vergeltungsglauben und zur Vergeltungslehre geführt.
Beim Finden der Vergeltungswünsche fragt der christliche Bibelleser mit Erschrecken, wie können wohl diese heftigen Hassausdrücke eines Frommen inspiriert sein und in der Heiligen Schrift stehen?
Offensichtlich wollen die Psalmisten hier keine „Lehre“ entwickeln, sondern sie öffnen ehrlich ihr Herz vor Gott. Sie wollen ohne Scheinfrömmigkeit aussprechen, was sie denken und wie sie sich im Moment die Hilfe Gottes vorstellen. Sie meinen: Wenn Gott in seiner Thora die Gesetzesübertreter mit einem Fluch sanktioniert hat, dann könnte ER doch diesen Fluch bei den Feinden jetzt in Kraft setzen.
Ein Orientale fürchtete den Fluch als eine reale Kraft. So war ein Fluchwort oft das einzige Schutzmittel in Fällen, wo Menschen, denen Unrecht geschehen war, keine Hilfe durch menschliche Richter zu erwarten hatten.
Wir halten fest, dass auch die Vergeltungspassagen in den Psalmen in ihrem vollen Gefüge biblische „Prophetie“ sind, das heißt, sie sind inspirierte Texte um zu verkündigen, was die Gottlosen im Jüngsten Gericht zu erwarten haben. Die Verdammung trifft wahrhaftig alle verstockten Sünder – und das noch schärfer als die Rachepsalmen es in ihrem Wortlaut aussprechen.
4 verschiedene Aspekte der Vergeltung in Psalmen
1) Die literarische Frage. So wie der Freude und dem Schmerz immer etwas vorausging, so sind auch Lob und Klage in den Psalmen eine Antwort, die etwas früher Geschehenes voraussetzen. Beide sind aus dem Leben erwachsen und sind eine natürliche Reaktion des Menschen.
Als poetische Gebete des Orientalen sind die Rachepsalmen Medien sprachlicher Bändigung der Gewalt und Anleitung zu Wegen aus der Gewalt – und das im Angesicht Gottes, der die Vision von der Welt ohne Ungerechtigkeit wach hält. Was dabei Rache genannt wird, sind morphologisch betrachtet oft nur Wünsche, die die Bestrafung der Feinde zum Inhalt haben. So zB die Seligpreisung: „Tochter Babel, du Verwüsterin, wohl dem, der dir vergilt, was du uns angetan hast! Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert!” Psalm 137:8f. Im Kontext gesehen ist dies kein Fluch, sondern der Wunsch, dass die Vergeltung vollbracht würde.
Ab und zu sind in der Geschichte Wünsche geäußert worden, dass solche Passagen ausgelassen werden könnten. Aber bei den Psalmtexten wäre es kaum möglich, denn dann müsste man nachher alle übrig gebliebenen Verse untereinander anpassen. Eigentlich gibt es aber nur zwei Möglichkeiten: Den Text so zu lassen, wie er ist, oder man müsste ihn als Ganzes streichen. Jederlei Zerstückeln aber würde weitere Fragwürdigkeiten mit sich bringen. Es wäre auch ein harter Widerspruch zur jahrhundertelangen Tradition, wo der Psalter ein Gebetsbuch der Kirche gewesen ist. Die Katholische Kirche hat jedoch einige Psalmen als für das kirchliche Stundengebet unzumutbar ausgestoßen (neues Brevier 1971).
Mit der Eliminierung der sogenannten Rachepsalmen wäre „der Ärger“ über diese Psalmen noch längst nicht beseitigt, denn außer direkter Aufrufe, Gott möge mit allen Feinden ein schnelles Ende machen, stehen im Psalter noch viele andere Äußerungen gegen die Feinde.
Im alttestamenlichen Gottesdienst gingen Hilferufe und Fluchworte gegen die Feinde Hand in Hand. Es wird vermutet, dass diese Klagepsalmen in die Liturgie der Buss- und Gebetstage Israels gehörten.
Die Psalmen sind noch keine Prosagebete, aber auch nicht mehr nur einzelne Gebetsrufe. Sie sind weder gedankliche Gedichte noch Abhandlungen eines einzigen Themas. Oft sind sie wohl Zusammenstellungen aus einzelnen Teilen, die ihre eigene Vorgeschichte haben konnten.
2) Die biblisch-theologische Frage: der Kampf der Armen. Die vom Psalmisten im Angesicht Gottes vorgetragene Klage hat die gleiche Funktion wie eine Anklage vor Gericht – es wird nach einer Veränderung der Lage gestrebt. Es ist kein um sich selbst drehendes Murren. Und fast immer sind dort die drei Beteiligten:
1. Gott, der das Gericht hält;
2. der Unterdrückte, der für sein Recht einsteht;
3. der Feind, bei dessen Verurteilung dem Unterdrückten Rettung widerfährt.
Es ist offenbar, dass die Bestrafung des Bösen, wie sie in den Rachepsalmen zum Ausdruck kommt, kein Selbstzweck ist; sie ist eher die negative Seite eines positiven Prozesses – der Errettung.
Die Vergeltung war im AT abgegrenzt. Die Verordnung „Schaden um Schaden, Auge um Auge, Zahn um Zahn; wie er einen Menschen verletzt hat, so soll man ihm auch tun” 3. Mose 24:20 war nicht nur das Gebot, Rache zu üben, sondern minderte diese gleichzeitig bis zu der Größe, wo sie nicht mehr das Zusammenleben der ganzen Volksgemeinde gefährdete.
Es ist auch zu sehen, dass die Psalmisten auf diesem Weg der Mäßigung noch weiter gehen. Sie respektieren den Satz, wo der Herr sagt: „Die Rache ist mein 5.Mose 32:35. In diesem Satz steckt eine größere Hoffnung, nämlich dass die Gerechtigkeit Gottes offenbar wird; genauso hoffen die Beter, dass dies möglichst schnell geschieht.
Bei den Rachepsalmen muss man betonen, dass sie aus der Perspektive des Opfers geschrieben und keine sadistischen Fantasien der Gewaltätigen sind. Sie fordern uns direkt heraus, über unsere Feinde und Feindbilder zu sprechen, und konfrontieren uns mit der Frage, ob wir an der Seite des Opfers oder der des Übeltäters stehen! In den Psalmen wird der Feind ernst genommen. Gegen ihn wird entschlossen vorgegangen. Wer aber zögert, sich in dieser Lage gegen den Feind zu wenden, kann der Täuschung verfallen, es gäbe gar keinen Feind und auch keine Gegner Gottes mehr. In der letzten Not ergreift der Psalmbeter die Waffen des Ohnmächtigen. Er spricht über seine Eifersucht mit Gott, protestiert gegen Sünde und Ungerechtigkeit, aber er verfällt nicht in Streit und Schadenfreude.
Viele Psalmen sind vom Wunsch bestimmt, den Feind zu überwinden. Der Beter wusste, dass er es aus eigener Kraft nicht schafft. Zusammen mit Gott aber werden die Feinde nicht mehr als Übermacht erlebt, vor der man sich unterwerfen muss. So sehen wir, dass in Bezug auf „feindliche Kräfte“ der Psalter kein Buch des Unterliegens ist, sondern ein Zeugnis über neue Hoffnung, die bei der Hinwendung zu Gott wächst.
Im alten Israel gehörte die ganze Jurisdiktion prinzipiell Gott. Durch den Fluch wurden alle (unversöhnten) schweren Verbrechen ihm als dem Obersten Richter übergeben. Das konnte z.B. am großen Versöhnungstag stattfinden (vgl. 5. Mose 27; Josua 8:30-35). Jedes Rezitieren der Rachepsalmen war in bestimmter Hinsicht eine kleine Wiederholung der großen Fluchzeremonie auf dem Berg Ebal. So wie diese alten Flüche bei den Propheten zur Drohung wurden, so werden sie bei den Psalmisten zu Gebeten.
Im allgemeinen sind die Feinde in Psalmen anonym, nur in den Klagepsalmen des Volkes sind sie ab und zu aufgezählt (Nachbarvölker Edom, Moab, Babel). Israel und Gott hatten einen gemeinsamen Bund geschlossen, und so hatte das Volk das Recht, den anderen Bundespartner zur Hilfe zu rufen.
In solchen Moment lässt der Psalmist nicht mit sich verhandeln – dem Übeltäter soll kein letztes Wort bleiben. Als Motiv für das göttliche Eingreifen dient die heimtückische Tätigkeitsweise der Feinde. Die böse Tat soll auf den Kopf des Feindes zurückkehren. Auf dem Wunschzettel der Strafen fehlt kaum etwas (Psalm 109:6-20). Es fällt auf, das die angestrebte Strafe kollektiv ist: nicht nur der konkrete Feind, sondern auch seine Familienangehörigen, Vorfahren und Nachkommen sollen zugrunde gehen.
3) Die hermeneutische Perspektive. Die Sprache der Poesie ist bildhaft. Die Einzelausdrücke der Psalmen darf man weder als dogmatische Lehrsätze deuten noch wort-wörtlich auslegen, sondern wir können sie etwas „spielend-elastisch“ ansehen und auf uns wirken lassen.
Noch weniger als bei anderen Texten dürfen wir sie aus dem Kontext herausnehmen. So sind Rachesätze als Teil eines Psalms ein Ausdruck des Schmerzes, der Hilfslosigkeit, des Nichtweiterwissens. Wir sehen aber, dass mit Gottes Hilfe am Ende dieser Psalmen ein triumphierendes Gotteslob erklingt (vgl. Psalm 35; 58; 59; 69; 70; 83; 94; 109; 139).
In den Psalmen ist oft eine Stimmung ausgedrückt und nicht eine sachliche Fakten-Darbietung. Dort wird über Freude und Hoffnung, Wut und Hass – von allem, was dem Menschen begegnet –, gesungen. So sind die schockierenden Schlussverse in Psalm 137 in Poesie gepackter elementarer Hass gegen Babel. Aber diese negative Stimmung endet mit der Liebe des Autors zu Jerusalem und Zion. Das beseelt den ganzen Psalm, und dem können viele zustimmen.
4) Das AT ist an die Diesseitigkeit gebunden. Damals herrschte die Sicht vor, dass alles, was Gott dem Menschen tut, zwischen Geburt und Tod geschieht. So bedeutete der Feind dem Israeliten eine letzte Gefährdung, und deshalb durfte und musste man ihn verfluchen. Die Vergeltungspsalmen halten uns wach, dass wir das bedingungslose Gebot der Feindesliebe nicht für selbstverständlich halten und das Vorhandensein des Bösen nicht zu leicht nehmen.
Im atl. Beichtspiegel versteht sich der Beter vor Gott immer als Gerechter, obwohl wir heute manche Fragen zu seiner Moral haben. Es ist charakteristisch, dass er stets eifrig seine Unschuld schützt. Im Gericht tritt der Psalmist immer als Ankläger auf, niemals als Angeklagter. Er will die öffentliche Bestätigung seiner Unschuld sehen. Nach seiner Meinung muss Gott im entstandenen Konflikt jemand zur Verantwortung ziehen, und weil er sich selbst unschuldig fühlt, kann es nur der Feind sein. Aber diese Anschauung ist zu simpel, um sie einfach auf das eigene Leben zu übertragen. Nicht immer war der auch gerecht, dem es gut ging.
K. Koch meint im Psalter eine Anschauung feststellen zu können, die das menschliche Tun als Saat und sein Ergehen als Ernte versteht. Manche Ernte lässt auf sich warten, weil die Tat noch nicht zu Ende gewirkt hat. Um das Schicksal zu wenden und Gerechtigkeit herzustellen, ist aber ein Eingreifen Gottes nötig.
Israel fängt nicht an, selber heimzuzahlen, sondern betet zu Gott und ruft ihn zur Hilfe (5. Mose 32:35; vgl. Römer 12:19). “Rache”, auf die Israel hofft, ist das göttliche Gericht über Spott und Bosheit der feindlichen Völker, eine Sehnsucht, dass Gott das Böse nicht zulasse.
Die Hoffnung auf eine sichtbare Bestätigung der Macht Gottes ist nicht nur alttestamentlich, sondern auch neutestamentlich.
In beiden Testamenten wird erwartet, dass Gerechtigkeit nicht nur in der unsichtbaren Welt, dem idealen Vergeltungsraum, sondern auch schon in dieser Welt geschieht. Deshalb ertönt der Ruf nach göttlichem Gericht und nach Rache auch im Buch der Offenbarung, wo Schmerz und Pein unerträglich geworden sind (Offenbarung 6:10).
Es wäre ein volles Missverstehen der biblischen Wahrheit, wenn wir Liebe und Vergeltung einfach gegeneinander stellten. Der Aufruf zur Rache, wie er in manchen Psalmen erklingt, ist zu verstehen als die Erwartung der Unterdrückten: Der Herr solle auf die Bosheit der feindlichen Völker mit dem Erweis seines Gerichts und seiner Kraft antworten.
Vor Christus war die einzig sichere Bestätigung der Sätze der Heiligen Schrift ein pragmatischer Test, nach dem denen, die im Unrecht waren, das Unheil wirderfuhr, und denen, die zur Wahrheit hielten, die Rettung. Solange die Bösen frohlockten, schien ihr Erfolg gegen die Souveränität des Gottes Israels zu sprechen. Der alttestamentliche Gläubige konnte sich mit dieser Lage nicht zufrieden geben.
Weil er sich selbst voll mit Gottes Sache identifizierte, konnte er seine Feinde immer auch als Gottes Feinde ansehen.
Nach damaliger Meinung konnte Gottes Entscheidung nur zweiseitig sein – für den Einen und gegen den Anderen. Hier hat die Psalmenfrömmigkeit ihre Grenze.
Die Änderung kam erst dann, als Christus am Kreuz für alle Menschen starb, auch für die Feinde.
Die alttestamentlichen Äußerungen über die Bestrafung und Vernichtung der Feinde sagen auch noch nicht das aus, was im christlichen Bereich unter ewiger Verdammnis zu verstehen ist.
In der Liturgie sucht man weiterhin nach Verwendungsmöglichkeiten für diese Texte, und man hat herausgefunden, dass in kontrollierter und ritualisierter Form das Durcharbeiten der Rachegedanken eine therapeutische Kraft haben kann.
In der Seelsorge sieht man, dass solche Lieder das Gewissen des Menschen in Bezug auf das Böse schärfen können, und es ist besser, in kanonischer Sprache die eigenen Aggressionen durchzuspielen als in der freien Phantasie, um dann möglicherweise auf eigene Feindworte und Rachetaten verzichten zu können.
Wir können die Autoren der Rachepsalmen verstehen wollen, aber wir müssen sie nicht immer rechtfertigen. Die Psalmen sind eine kunstvolle Poesie, und unsere Theologie der Rachepsalmen darf sich nicht zu weit von ihrem Sprachgebrauch entfernen.
Die Rachepsalmen erinnern uns, dass es in der Welt das Böse gibt und dass Gott es hasst. Und wenn in Rachepsalmen auch menschliche Begrenztheit vorhanden ist, spricht uns dadurch doch das Wort Gottes an.
Ungeachtet des fremden Kolorit erkennen wir, dass sich diese Psalmen um die Ehre Gottes bemühen. Die Psalmisten sind ethisch hochstehend und dulden kein Unrecht und fordern hier und da entscheidend die Strafe.
Sie verstehen sich als gerecht, weil sie das Gericht dem HERRN als dem obersten Richter und dem treuen Bundespartner anvertrauen und damit darauf verzichten, ihren Feinden die bösen Taten selber heimzuzahlen. Doch möchten sie die Sache gern mit kräftigen und mächtigen Worten beschleunigen.
Der jüdische Friedensnobelpreisträger (1986) Eli Wiesel hat gesagt:
“Der Gegensatz der Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit!” und gegen diese Gleichgültigkeit kämpfen die Feindworte der Psalmen.
Ermo Jürma, 03.03.2007
Die Psychologie der Rachepsalmen
Am Anfang des XXI. Jahrhunderts leben wir in einer von Terroranschlägen gezeichneten Welt, viele Wunden zwischen Völkern und Einzelpersonen sind nicht geheilt. Nicht wenige Leute hegen Rachegedanken – denn Rache ist ja so süß.
Rache ist kein angenehmes Phänomen. Viele verstehen, dass es äußerst negativ ist. Zur gleichen Zeit werden damit auch mehrere positive Momente wie Gerechtigkeit, Unabhängigkeit und Selbstschutz verknüpft.
Rache ist ein ernstes Problem für die „guten“ Menschen, die denken, dass sie damit nichts zu tun haben dürfen. Sie fühlen sich schon dann schuldig, wenn sie ihre negativen Emotionen nicht verbergen können, geschweige denn Worte und Taten.
Es gibt Leute, die dann ihre Bibel aufschlagen und dort Hilfe suchen. Rachegedanken finden wir schon am Anfang der Bibel: 1. Mose 4:24 „Kain soll siebenmal gerächt werden, aber Lamech siebenundsiebzigmal“; und weiter zieht sich der Faden durch die ganze Heilige Schrift. Römer 12:19b „Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.“
Wohl lautet eine erste Erklärung, dass diese Stellen „typisch alttestamentlich“ seien und zu einer Gesetzesreligion gehören würden – also vorchristlich seien. Das zeugt von unseren Vorurteilen gegenüber AT und Judentum. Es ist nicht wahr, dass die Hebräische Bibel eine zügellose Vergeltungsreligion vertritt. Das AT spricht auch über Gottes überschwängliche Liebe:
Jeremia 31:3 „Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.“
5. Mose 7:9 “So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten.”
Schon das AT spricht von allumfassender Vergebung: Jesaja 55:7 „Der Gottlose lasse von seinem Wege und der Übeltäter von seinen Gedanken und bekehre sich zum HERRN, so wird er sich seiner erbarmen, und zu unserm Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung.“
Auf der anderen Seite enthält auch das NT eine Sehnsucht, dass die Widersacher Gottes für ihr Unrecht ihren Lohn erhalten: 2. Thessalonicher 1:6 “Denn es ist gerecht bei Gott, mit Bedrängnis zu vergelten denen, die euch bedrängen.“
Eine besondere Rolle spielen die Psalmen. Beim fortlaufenden Lesen begegnen uns dort einige sehr harte Vergeltungsgedanken. Am drastischsten sind wohl diese: „Gott, zerbrich ihnen die Zähne im Maul ... HERR, du Gott der Vergeltung, du Gott der Vergeltung, erscheine! … Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert!” (Psalm 58:7; 94:1; 137:9)
Was wollen die Racheaussagen in Psalmen? Wo und wie sind sie zu gebrauchen?
Beim Psalter denken wir gewöhnlich an etwas Prachtvolles, Erhabenes.
Die Theologie benutzt auch das Wort „Rachepsalmen“ und versteht darunter kürzere oder längere Abschnitte aus mehr als 37 verschiedenen Psalmen. Der Anteil der Racheabschnitte ist dort manchmal nur 1 bis 2 Verse lang (Psalm 12; 17 usw), manchmal ist der Umfang auch größer (Psalm 59; 83; 109 usw). Aber die Bezeichnung „Rachepsalm“ trifft auf keinen der 150 Psalmen voll zu. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat den Terminus „Rachepsalm“ als erster F.A.G. Tholuck verwendet. Nebenbei: Als ich 1982/83 an der Universität Halle studierte, wohnte ich in einem Konvikt, das seinen Namen trug.
Die Bedeutung der Vergeltung in Psalmen
Im Alten Testament bedeutet die Vergeltung eine schon in der Schöpfung gegründete Bewahrung der Lebensordnung: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden; denn Gott hat den Menschen zu seinem Bilde gemacht.” 1. Mose 9:6. Die Vergeltung hat hier einen positiven Klang. So verstand man die Wiederherstellung des Gesund-Seins der Gesellschaft.
Auf die Frage, ob in etlichen Psalmen ein Vergeltungsdogma vorausgesetzt sei, wird in der Theologie manchmal folgende Antwort gegeben: Es wird gesehen, dass Gott selber das Volk entsprechend dessen Verhalten zu seinem Gesetz behandelt – wo sie sündigten, dort kam auch die Strafe. Dies habe zum Vergeltungsglauben und zur Vergeltungslehre geführt.
Beim Finden der Vergeltungswünsche fragt der christliche Bibelleser mit Erschrecken, wie können wohl diese heftigen Hassausdrücke eines Frommen inspiriert sein und in der Heiligen Schrift stehen?
Offensichtlich wollen die Psalmisten hier keine „Lehre“ entwickeln, sondern sie öffnen ehrlich ihr Herz vor Gott. Sie wollen ohne Scheinfrömmigkeit aussprechen, was sie denken und wie sie sich im Moment die Hilfe Gottes vorstellen. Sie meinen: Wenn Gott in seiner Thora die Gesetzesübertreter mit einem Fluch sanktioniert hat, dann könnte ER doch diesen Fluch bei den Feinden jetzt in Kraft setzen.
Ein Orientale fürchtete den Fluch als eine reale Kraft. So war ein Fluchwort oft das einzige Schutzmittel in Fällen, wo Menschen, denen Unrecht geschehen war, keine Hilfe durch menschliche Richter zu erwarten hatten.
Wir halten fest, dass auch die Vergeltungspassagen in den Psalmen in ihrem vollen Gefüge biblische „Prophetie“ sind, das heißt, sie sind inspirierte Texte um zu verkündigen, was die Gottlosen im Jüngsten Gericht zu erwarten haben. Die Verdammung trifft wahrhaftig alle verstockten Sünder – und das noch schärfer als die Rachepsalmen es in ihrem Wortlaut aussprechen.
4 verschiedene Aspekte der Vergeltung in Psalmen
1) Die literarische Frage. So wie der Freude und dem Schmerz immer etwas vorausging, so sind auch Lob und Klage in den Psalmen eine Antwort, die etwas früher Geschehenes voraussetzen. Beide sind aus dem Leben erwachsen und sind eine natürliche Reaktion des Menschen.
Als poetische Gebete des Orientalen sind die Rachepsalmen Medien sprachlicher Bändigung der Gewalt und Anleitung zu Wegen aus der Gewalt – und das im Angesicht Gottes, der die Vision von der Welt ohne Ungerechtigkeit wach hält. Was dabei Rache genannt wird, sind morphologisch betrachtet oft nur Wünsche, die die Bestrafung der Feinde zum Inhalt haben. So zB die Seligpreisung: „Tochter Babel, du Verwüsterin, wohl dem, der dir vergilt, was du uns angetan hast! Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert!” Psalm 137:8f. Im Kontext gesehen ist dies kein Fluch, sondern der Wunsch, dass die Vergeltung vollbracht würde.
Ab und zu sind in der Geschichte Wünsche geäußert worden, dass solche Passagen ausgelassen werden könnten. Aber bei den Psalmtexten wäre es kaum möglich, denn dann müsste man nachher alle übrig gebliebenen Verse untereinander anpassen. Eigentlich gibt es aber nur zwei Möglichkeiten: Den Text so zu lassen, wie er ist, oder man müsste ihn als Ganzes streichen. Jederlei Zerstückeln aber würde weitere Fragwürdigkeiten mit sich bringen. Es wäre auch ein harter Widerspruch zur jahrhundertelangen Tradition, wo der Psalter ein Gebetsbuch der Kirche gewesen ist. Die Katholische Kirche hat jedoch einige Psalmen als für das kirchliche Stundengebet unzumutbar ausgestoßen (neues Brevier 1971).
Mit der Eliminierung der sogenannten Rachepsalmen wäre „der Ärger“ über diese Psalmen noch längst nicht beseitigt, denn außer direkter Aufrufe, Gott möge mit allen Feinden ein schnelles Ende machen, stehen im Psalter noch viele andere Äußerungen gegen die Feinde.
Im alttestamenlichen Gottesdienst gingen Hilferufe und Fluchworte gegen die Feinde Hand in Hand. Es wird vermutet, dass diese Klagepsalmen in die Liturgie der Buss- und Gebetstage Israels gehörten.
Die Psalmen sind noch keine Prosagebete, aber auch nicht mehr nur einzelne Gebetsrufe. Sie sind weder gedankliche Gedichte noch Abhandlungen eines einzigen Themas. Oft sind sie wohl Zusammenstellungen aus einzelnen Teilen, die ihre eigene Vorgeschichte haben konnten.
2) Die biblisch-theologische Frage: der Kampf der Armen. Die vom Psalmisten im Angesicht Gottes vorgetragene Klage hat die gleiche Funktion wie eine Anklage vor Gericht – es wird nach einer Veränderung der Lage gestrebt. Es ist kein um sich selbst drehendes Murren. Und fast immer sind dort die drei Beteiligten:
1. Gott, der das Gericht hält;
2. der Unterdrückte, der für sein Recht einsteht;
3. der Feind, bei dessen Verurteilung dem Unterdrückten Rettung widerfährt.
Es ist offenbar, dass die Bestrafung des Bösen, wie sie in den Rachepsalmen zum Ausdruck kommt, kein Selbstzweck ist; sie ist eher die negative Seite eines positiven Prozesses – der Errettung.
Die Vergeltung war im AT abgegrenzt. Die Verordnung „Schaden um Schaden, Auge um Auge, Zahn um Zahn; wie er einen Menschen verletzt hat, so soll man ihm auch tun” 3. Mose 24:20 war nicht nur das Gebot, Rache zu üben, sondern minderte diese gleichzeitig bis zu der Größe, wo sie nicht mehr das Zusammenleben der ganzen Volksgemeinde gefährdete.
Es ist auch zu sehen, dass die Psalmisten auf diesem Weg der Mäßigung noch weiter gehen. Sie respektieren den Satz, wo der Herr sagt: „Die Rache ist mein 5.Mose 32:35. In diesem Satz steckt eine größere Hoffnung, nämlich dass die Gerechtigkeit Gottes offenbar wird; genauso hoffen die Beter, dass dies möglichst schnell geschieht.
Bei den Rachepsalmen muss man betonen, dass sie aus der Perspektive des Opfers geschrieben und keine sadistischen Fantasien der Gewaltätigen sind. Sie fordern uns direkt heraus, über unsere Feinde und Feindbilder zu sprechen, und konfrontieren uns mit der Frage, ob wir an der Seite des Opfers oder der des Übeltäters stehen! In den Psalmen wird der Feind ernst genommen. Gegen ihn wird entschlossen vorgegangen. Wer aber zögert, sich in dieser Lage gegen den Feind zu wenden, kann der Täuschung verfallen, es gäbe gar keinen Feind und auch keine Gegner Gottes mehr. In der letzten Not ergreift der Psalmbeter die Waffen des Ohnmächtigen. Er spricht über seine Eifersucht mit Gott, protestiert gegen Sünde und Ungerechtigkeit, aber er verfällt nicht in Streit und Schadenfreude.
Viele Psalmen sind vom Wunsch bestimmt, den Feind zu überwinden. Der Beter wusste, dass er es aus eigener Kraft nicht schafft. Zusammen mit Gott aber werden die Feinde nicht mehr als Übermacht erlebt, vor der man sich unterwerfen muss. So sehen wir, dass in Bezug auf „feindliche Kräfte“ der Psalter kein Buch des Unterliegens ist, sondern ein Zeugnis über neue Hoffnung, die bei der Hinwendung zu Gott wächst.
Im alten Israel gehörte die ganze Jurisdiktion prinzipiell Gott. Durch den Fluch wurden alle (unversöhnten) schweren Verbrechen ihm als dem Obersten Richter übergeben. Das konnte z.B. am großen Versöhnungstag stattfinden (vgl. 5. Mose 27; Josua 8:30-35). Jedes Rezitieren der Rachepsalmen war in bestimmter Hinsicht eine kleine Wiederholung der großen Fluchzeremonie auf dem Berg Ebal. So wie diese alten Flüche bei den Propheten zur Drohung wurden, so werden sie bei den Psalmisten zu Gebeten.
Im allgemeinen sind die Feinde in Psalmen anonym, nur in den Klagepsalmen des Volkes sind sie ab und zu aufgezählt (Nachbarvölker Edom, Moab, Babel). Israel und Gott hatten einen gemeinsamen Bund geschlossen, und so hatte das Volk das Recht, den anderen Bundespartner zur Hilfe zu rufen.
In solchen Moment lässt der Psalmist nicht mit sich verhandeln – dem Übeltäter soll kein letztes Wort bleiben. Als Motiv für das göttliche Eingreifen dient die heimtückische Tätigkeitsweise der Feinde. Die böse Tat soll auf den Kopf des Feindes zurückkehren. Auf dem Wunschzettel der Strafen fehlt kaum etwas (Psalm 109:6-20). Es fällt auf, das die angestrebte Strafe kollektiv ist: nicht nur der konkrete Feind, sondern auch seine Familienangehörigen, Vorfahren und Nachkommen sollen zugrunde gehen.
3) Die hermeneutische Perspektive. Die Sprache der Poesie ist bildhaft. Die Einzelausdrücke der Psalmen darf man weder als dogmatische Lehrsätze deuten noch wort-wörtlich auslegen, sondern wir können sie etwas „spielend-elastisch“ ansehen und auf uns wirken lassen.
Noch weniger als bei anderen Texten dürfen wir sie aus dem Kontext herausnehmen. So sind Rachesätze als Teil eines Psalms ein Ausdruck des Schmerzes, der Hilfslosigkeit, des Nichtweiterwissens. Wir sehen aber, dass mit Gottes Hilfe am Ende dieser Psalmen ein triumphierendes Gotteslob erklingt (vgl. Psalm 35; 58; 59; 69; 70; 83; 94; 109; 139).
In den Psalmen ist oft eine Stimmung ausgedrückt und nicht eine sachliche Fakten-Darbietung. Dort wird über Freude und Hoffnung, Wut und Hass – von allem, was dem Menschen begegnet –, gesungen. So sind die schockierenden Schlussverse in Psalm 137 in Poesie gepackter elementarer Hass gegen Babel. Aber diese negative Stimmung endet mit der Liebe des Autors zu Jerusalem und Zion. Das beseelt den ganzen Psalm, und dem können viele zustimmen.
4) Das AT ist an die Diesseitigkeit gebunden. Damals herrschte die Sicht vor, dass alles, was Gott dem Menschen tut, zwischen Geburt und Tod geschieht. So bedeutete der Feind dem Israeliten eine letzte Gefährdung, und deshalb durfte und musste man ihn verfluchen. Die Vergeltungspsalmen halten uns wach, dass wir das bedingungslose Gebot der Feindesliebe nicht für selbstverständlich halten und das Vorhandensein des Bösen nicht zu leicht nehmen.
Im atl. Beichtspiegel versteht sich der Beter vor Gott immer als Gerechter, obwohl wir heute manche Fragen zu seiner Moral haben. Es ist charakteristisch, dass er stets eifrig seine Unschuld schützt. Im Gericht tritt der Psalmist immer als Ankläger auf, niemals als Angeklagter. Er will die öffentliche Bestätigung seiner Unschuld sehen. Nach seiner Meinung muss Gott im entstandenen Konflikt jemand zur Verantwortung ziehen, und weil er sich selbst unschuldig fühlt, kann es nur der Feind sein. Aber diese Anschauung ist zu simpel, um sie einfach auf das eigene Leben zu übertragen. Nicht immer war der auch gerecht, dem es gut ging.
K. Koch meint im Psalter eine Anschauung feststellen zu können, die das menschliche Tun als Saat und sein Ergehen als Ernte versteht. Manche Ernte lässt auf sich warten, weil die Tat noch nicht zu Ende gewirkt hat. Um das Schicksal zu wenden und Gerechtigkeit herzustellen, ist aber ein Eingreifen Gottes nötig.
Israel fängt nicht an, selber heimzuzahlen, sondern betet zu Gott und ruft ihn zur Hilfe (5. Mose 32:35; vgl. Römer 12:19). “Rache”, auf die Israel hofft, ist das göttliche Gericht über Spott und Bosheit der feindlichen Völker, eine Sehnsucht, dass Gott das Böse nicht zulasse.
Die Hoffnung auf eine sichtbare Bestätigung der Macht Gottes ist nicht nur alttestamentlich, sondern auch neutestamentlich.
In beiden Testamenten wird erwartet, dass Gerechtigkeit nicht nur in der unsichtbaren Welt, dem idealen Vergeltungsraum, sondern auch schon in dieser Welt geschieht. Deshalb ertönt der Ruf nach göttlichem Gericht und nach Rache auch im Buch der Offenbarung, wo Schmerz und Pein unerträglich geworden sind (Offenbarung 6:10).
Es wäre ein volles Missverstehen der biblischen Wahrheit, wenn wir Liebe und Vergeltung einfach gegeneinander stellten. Der Aufruf zur Rache, wie er in manchen Psalmen erklingt, ist zu verstehen als die Erwartung der Unterdrückten: Der Herr solle auf die Bosheit der feindlichen Völker mit dem Erweis seines Gerichts und seiner Kraft antworten.
Vor Christus war die einzig sichere Bestätigung der Sätze der Heiligen Schrift ein pragmatischer Test, nach dem denen, die im Unrecht waren, das Unheil wirderfuhr, und denen, die zur Wahrheit hielten, die Rettung. Solange die Bösen frohlockten, schien ihr Erfolg gegen die Souveränität des Gottes Israels zu sprechen. Der alttestamentliche Gläubige konnte sich mit dieser Lage nicht zufrieden geben.
Weil er sich selbst voll mit Gottes Sache identifizierte, konnte er seine Feinde immer auch als Gottes Feinde ansehen.
Nach damaliger Meinung konnte Gottes Entscheidung nur zweiseitig sein – für den Einen und gegen den Anderen. Hier hat die Psalmenfrömmigkeit ihre Grenze.
Die Änderung kam erst dann, als Christus am Kreuz für alle Menschen starb, auch für die Feinde.
Die alttestamentlichen Äußerungen über die Bestrafung und Vernichtung der Feinde sagen auch noch nicht das aus, was im christlichen Bereich unter ewiger Verdammnis zu verstehen ist.
In der Liturgie sucht man weiterhin nach Verwendungsmöglichkeiten für diese Texte, und man hat herausgefunden, dass in kontrollierter und ritualisierter Form das Durcharbeiten der Rachegedanken eine therapeutische Kraft haben kann.
In der Seelsorge sieht man, dass solche Lieder das Gewissen des Menschen in Bezug auf das Böse schärfen können, und es ist besser, in kanonischer Sprache die eigenen Aggressionen durchzuspielen als in der freien Phantasie, um dann möglicherweise auf eigene Feindworte und Rachetaten verzichten zu können.
Wir können die Autoren der Rachepsalmen verstehen wollen, aber wir müssen sie nicht immer rechtfertigen. Die Psalmen sind eine kunstvolle Poesie, und unsere Theologie der Rachepsalmen darf sich nicht zu weit von ihrem Sprachgebrauch entfernen.
Die Rachepsalmen erinnern uns, dass es in der Welt das Böse gibt und dass Gott es hasst. Und wenn in Rachepsalmen auch menschliche Begrenztheit vorhanden ist, spricht uns dadurch doch das Wort Gottes an.
Ungeachtet des fremden Kolorit erkennen wir, dass sich diese Psalmen um die Ehre Gottes bemühen. Die Psalmisten sind ethisch hochstehend und dulden kein Unrecht und fordern hier und da entscheidend die Strafe.
Sie verstehen sich als gerecht, weil sie das Gericht dem HERRN als dem obersten Richter und dem treuen Bundespartner anvertrauen und damit darauf verzichten, ihren Feinden die bösen Taten selber heimzuzahlen. Doch möchten sie die Sache gern mit kräftigen und mächtigen Worten beschleunigen.
Der jüdische Friedensnobelpreisträger (1986) Eli Wiesel hat gesagt:
“Der Gegensatz der Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit!” und gegen diese Gleichgültigkeit kämpfen die Feindworte der Psalmen.
Ermo Jürma, 03.03.2007